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Into The Wild - Wildnis als Erkenntnis- und Emanzipationsraum

(5.294 Zeichen inkl. Leerzeichen, veröffentlicht im Katalog der Ausstellung "Young European Landscape", CHB Berlin 2011)

Society, you're a crazy breed
I hope you’re not lonely
without me.1


Der Gang in die Wildnis als Rückzug aus der Gesellschaft, das bewusste Verlassen der menschlichen Gemeinschaft zur Klärung des eigenen Standpunkts, zur Introspektion und zum Einswerden mit der Welt, der nichtmenschlichen Welt, kommt in fast jeder Kultur der Erde vor.
Die Verzweiflung an der Gesellschaft, die oftmals einer Flucht vor ihr vorausgeht, ist nicht selten die Verzweiflung am eigenen Ich, die Diskrepanz zwischen dem, wie man eigentlich sein will und dem, was man geworden ist. So wird die Reise in unzivilisierte Gebiete oft zur Reise in die unkontrollierten Teile des eigenen Ichs. Das animalische, nichtmenschliche Gegenüber wird zur Richtschnur des eigenen Ideals. Unabhängig, welche Nöte und Bedrängnisse das alltägliche Überleben außerhalb der Zivilisation bedeutet, scheint das Leben in der Wildnis Garant für vollkommene (göttliche) Harmonie zu sein, ein Effekt, den sich inzwischen eine ganze Reiseindustrie zunutze macht. Schließlich versprechen vom Menschen ungeformte Landstriche neben körperlicher  Bewährung und sensorischer Reintegration auch symbolische Selbstvergewisserung, die neben transzendentaler Geborgenheit (Reversion des Sündenfalls) durch die Unverfügbarkeit und die hermetische Selbstorganisation der Natur das eigene gesellschaftliche Wertesystem infrage stellt. Karriere und Geldprobleme werden klein im Angesicht der ewigen Kreisläufe der Wildnis.2


Society, crazy indeed
I hope you’re not lonely
without me.


Wie beim jungen Chris McCandless aus Jon Krakauers Roman „Into The Wild“ wird der Gang in die Wildnis von Heranwachsenden oftmals genutzt, um den sinnlos scheinenden Regeln des gesellschaftlich überformten Lebens der Erwachsenen zu entfliehen. In der (scheinbaren) Regellosigkeit der wilden Natur sind die Gesetze des erwachsenen Lebens zunächst außer Kraft gesetzt. Frei von Familie, Schule und allem anderen, das sonst den Alltag reglementiert, wird die unberührte Natur zum Emanzipationsraum. Ganz auf sich selbst zurückgeworfen, zählen hier vor allem eigene Erfahrungen, selbst aufgestellte Regeln. Erst deren zwangsläufiges, weil überlebensnotwendiges, Zuschneiden auf die äußeren Bedingungen hilft, das eigene Ich wieder in der großen, weiten Welt zu verorten. Ähnlich wie im Märchen von Schneewittchen wird die Wildnis zum Ort, der vor den Gefahren der Erwachsenen schützt, in dem man neue Freunde findet und, das kindliche Ich hinter sich lassend, zum Akteur der eigenen Persönlichkeit wird.


Society, have mercy on me
I hope you’re not angry
if I disagree.


Jesus in der Wüste, nordamerikanische Indianer bei ihren Meditationsläufen, oder Alexander von Humboldt am Orinoko: immer hat der Aufenthalt in der Wildnis neben der Selbsterkenntnis auch den Zweck, zu Wissen über den Rest der menschlichen Gemeinschaft zu führen.  Der Schritt zurück hilft bei der Betrachtung. Im Anderen werden die Unterschiede zum Selbst deutlich. Indem sich die Wissenschaft zurück in den Animismus begibt, reflektiert sie den eigenen Ursprung, das eigene Wertesystem: „Es darf uns ahnen, dass das Tabu der Wilden Polynesiens doch nicht so weit von uns abliegt, wie wir zuerst glauben wollten, dass die Sitten- und Moralverbote, denen wir selbst gehorchen, in ihrem Wesen eine Verwandtschaft mit diesem primitiven Tabu haben könnten, und dass die Aufklärung des Tabu ein Licht auf den dunklen Ursprung unseres eigenen ‘kategorischen Imperativs’ zu werfen vermöchte.“3


Society, you're a crazy breed
I hope you’re not lonely
without me.


Vielleicht schon seit den ersten Höhlenmalereien, bestimmt aber seit den erhabenen Landschaftsgemälden des 18. und 19.  Jh. dient die künstlerische Auseinandersetzung mit der übermächtigen, wilden Natur als Erkenntnis- und Erlebnisraum und zur Beschäftigung mit den zentralen Fragen des Menschseins: „Wo komme ich her?“, „Wie komme ich hierher?“ und „Wie zum Teufel komme ich wieder zurück?“. Damit übernimmt die Kunst eine wichtige Rolle und schafft einen  Raum der Erkenntnis, der sonst in der Großstadt, weit weg von allen Wildnissen, nicht verfügbar wäre: „Doch ob man es bedauert oder sich darüber freut, es gibt noch immer Zonen, in denen das wilde Denken, so wie die wilden Arten, relativ geschützt ist: das ist der Fall in der Kunst, der unserer Zivilisation den Status eines Naturschutzparks zubilligt, mit all den Vorteilen und Nachteilen, die sich mit einem so künstlichen Gebilde verbinden; und das ist besonders auf vielen Sektoren des sozialen Lebens der Fall, die noch nicht gerodet sind und in denen  – aus Gleichgültigkeit oder aus Ohnmacht, und meistens ohne dass wir wüssten, warum – das spontane, wilde Denken auch weiterhin gedeiht.“4


Society, crazy indeed
I hope you’re not lonely
without me.


1 „Society“ von Eddie VEDDER aus  dem Soundtrack zu „Into The Wild“, Drehbuch und Regie Sean Penn, DVD: Universum Film 2009

2 vgl. HAUBL, Rolf: Wild-fremd? Das Wilde in uns – eine psychologische Entdeckungsreise. In Politische Ökologie, Nr. 59: Wa(h)re Wildnis, München, April 1999, S. 24 ff.

3 FREUD Sigmund: Totem und Tabu –  einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt am Main 1972, S. 30

4 LÉVI-STRAUSS, Claude: Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1968, S. 253

 

INTO THE WILD – WILDERNESS AS A COGNITIVE AND EMANCIPATORY SPACE


Society, you’re a crazy breed
I hope you’re not lonely
without me.1


Venturing into the wilderness to withdraw from society, consciously exiting
from the human community to uncover one’s own standpoint, to shift into an
intro-spective mode and become one with the world, the non-human world:
these are practises known to almost every culture in the world.


Despair of society is what frequently precedes an escape from society, and
it is often also a despair of one’s own self, the discrepancy between how one
wants to be and that which one has become. Thus the journey into uncivilised
territories often becomes a journey into the uncontrolled parts of one’s own
self. The ani-mal, non-human counterpart sets the standard for one’s own
ideal. Irrespective of the hardships and constraints of day-to-day survival
outside of civilisation, life in the wilderness seems to guarantee complete
(divine) harmony, an effect that has come to be exploited by an entire travel
industry. After all, apart from putting physical prowess to the test and offering
sensory re-integration, landscapes un-touched by humans also promise
symbolic self-confirmation, which sees one’s own social value-system being
drawn into question by transcendent comfort (re-versal of the original
sin) and nature’s intangible and hermetically closed self-organisation. Career
and money problems shrink before the eternal cycles of the wilderness.2


Many adolescents are just like the young Chris McCandless in Jon Krakauer’s
Novel Into The Wild, readily venturing into the wilderness in order to
escape the seemingly senseless rules of an adult life over-determined by
society. In the (seeming) lawlessness of wild nature the laws of adult life are
at first undone. Free from family, school and everything else that regiments
everyday life, un-touched nature becomes an emancipatory space. Thrown
back upon oneself, one’s own experiences and self-established rules come
to matter most. Eventually the necessities of survival call for the rules to be retailored
to external circum-stances, thereby helping the self to find its place
in the world at large. Just like in the fairy tale of Snow White, the wilderness
becomes the place that offers protec-tion from the perils of adulthood, where
one finds new friends, leaves the infant self behind and becomes the agent
of one’s own personality.


Jesus in the desert, the meditation runs of the American Indians, or Alexander
Humboldt at the river Orinoco – staying in the wilderness always serves
the dual purpose of obtaining self-knowledge and knowledge about the rest
of the human community. The step back facilitates observation. The other reveals
the differ-ences to oneself. By returning to a form of animism, science
reflects its own ori-gins and inherent value-system: We may presume that
the taboo of the Polynesian savages is not as far from our own as we may at
first glance believe, that the strictures of morality and convention which we
ourselves obey share an essential kinship with this primitive taboo, and that
elucidating the taboo may shed light on the dark origin of our own ‘categorical
imperative’
.3


Perhaps dating back to the first cave paintings, but certainly to the exalted
land-scape-paintings of the 18th and 19th centuries, artists’ preoccupation
with over-powering, wild nature as a cognitive and experiential space serves
to address the central questions of humanity: Where do I come from?, How
did I get here? and How the hell do I get back again? Thus art comes to play
an important role in creating a cognitive space which would otherwise not
be available in big cities far removed from any sort of wilderness: Whether
one regrets or embraces it, there still exist zones wherein the savage mind,
like the wild species, is relatively well pro-tected: this is the case with art,
to which our society accords the status of a nature reser-voir, with all the
advantages and disadvantages that such an artificial creation entails; and it
is especially the case in many sectors of social life, which haven’t yet been
eradi-cated and in which – from indifference or impotence, and mostly without
us knowing why – the spontaneous, wild mind continues to thrive.4


Society, have mercy on me
I hope you’re not angry
if I disagree.

 

Übersetzung: Fabian Faltin